Alle Farben des Regenbogens

 

Als es mir bewusst wurde, war ich 16 Jahre alt. Mein Vater und ich waren in der Küche, er stand an der Tür, wie üblich, wenn er redete, und ich saß auf einem Stuhl am Fenster. Wir ließen die Zeit vorüberziehen, als ich ein kleines Mädchen war, das Schreiben übte. Dank seiner Hilfe lernte ich sehr rasch alle Buchstaben, nur das R nicht.

"Aber eines Tages", sagte ich zu meinem Vater, "wurde mir klar, dass ich das R ganz einfach schreiben konnte, indem ich zuerst ein P zeichnete und dann eine Linie vom Halbkreis des P nach unten zog. Ich war so überrascht, dass ich einen gelben Buchstaben in einen orangefarbenen verwandeln konnte, wenn ich einfach eine Linie hinzufügte."

"Gelber Buchstabe? Orangefarbener Buchstabe?" sagte mein Vater, "Was meinst du damit?"

"Nun ja", antwortete ich, "P ist gelb und R ist orange. Wie eben die Farben der Buchstaben sind."

"Die Farben der Buchstaben?" fragte mein Vater ungläubig.

Dieses Thema war niemals zuvor angesprochen worden. Ich hatte nie daran gedacht, es jemandem zu erzählen. Seit ich denken konnte, hatte jeder Buchstabe des Alphabets eine andere Farbe. Auch jedes Wort hatte eine andere Farbe und jede Zahl. Diese Farben gehörten zu den Buchstaben, Wörtern und Zahlen genau wie ihre Formen, und ebenso wie die Formen änderten sich die Farben nie.

Ich hatte es immer für selbstverständlich gehalten, dass die ganze Welt es so sah. Daher hatte ich nicht damit gerechnet, dass mein Vater so verblüfft reagieren würde. Ich hatte aus meiner Sicht etwas ganz Normales gesagt - etwa wie "Äpfel sind rot" oder "Blätter sind grün" -, aber die Reaktion war Unverständnis. Es war mir nicht klar, dass die Wahrnehmung von gelben Ps, orangen Rs, grünen Bs, purpurfarbenen 5s, braunen Montagen und türkisfarbenen Donnerstagen etwas ganz Besonderes war. Nur jeder Zweitausendste kennt dieses verrückte neurologische Phänomen, das "Synästhesie" genannt wird.

Bei Synästhesie wird mit einem Reiz nicht nur ein Sinn stimuliert, sondern noch ein weiterer. Das kann so aussehen, dass "Synästheten" solch seltsame Wahrnehmungen erleben wie Farben bei Wörtern und Tönen oder sogar Formen bei Geschmacksempfindungen (der Neurologe Richard Cytowic beschreibt das letztere Phänomen in seinen Büchern). In den vergangenen 10 Jahren haben Neurologen - vor allem an der englischen Cambridge-Universität - herausgefunden, dass Synästhesie vererbt wird und durch einige ungewöhnliche Nervenstrukturen im Gehirn der Betroffenen verursacht wird. So sind Rezeptoren für visuelle Wahrnehmung mit Laut-Rezeptoren verbunden und Rezeptoren für Geschmack mit solchen für den Tastsinn.

Bei dem oben beschriebenen Gespräch in der Küche hatten weder mein Vater noch ich jemals von Synästhesie gehört - und wir waren verwirrt. Mein Vater staunte über meine farbigen Buchstaben und ich wunderte mich über seine Reaktion. Das war einer der Momente, als ich begann zu erkennen, dass die Welt nicht so war, wie ich sie bisher wahrgenommen hatte. Es war ein Augenblick, der zu der grundsätzlichen Frage führte, die Menschen verbindet: "Siehst du, was ich sehe?" Sie schien im leeren Raum zu stehen.

Plötzlich fühlte ich mich auf meiner kleinen Insel von marineblauem C, dunkelbraunem D, funkelnd grüner 7 und weinrotem v ausgesetzt. Was sonst noch war bei mir anders als bei den anderen Menschen? fragte ich mich. Was sahen die anderen, was ich nicht wahrnahm? Es schien mir, dass vielleicht jeder Mensch seine kleine Besonderheit in der Wahrnehmung hatte, die ihm nicht bewusst war und die ihn auf eine eigene Insel versetzte, die auf seltsame Weise von den anderen isoliert war. Ich hatte das verwirrende Gefühl, dass es so viele individuelle "Inseln" gibt wie Menschen.

Nach dem Gespräch in der Küche ging mein Vater sofort los und durchstöberte alle Bibliotheken und Buchhandlungen auf der Suche nach Informationen, die die seltsamen Wahrnehmungen seiner Tochter erklärten. Dabei stieß er auf das magische Wort "Synästhesie", das meine Empfindungen in das Gerüst bekannter menschlicher Erfahrungen einordnete. Mein Vater und ich fanden heraus, dass auch schon andere das Land der Synästhesie betreten hatten: der Dichter Rimbaud, der in dem Sonnett Voyelles die von ihm wahrgenommenen farbigen Vokale beschrieb, der Schriftsteller Nabokov, der sein farbiges Alphabet in seiner Autobiographie Speak, Memory beschrieb, die Komponisten Liszt und Messaien, die Noten farbig sahen (Messiaen wurde dadurch zu seiner Komposition Couleurs de la Cité Céleste angeregt), der Maler David Hockney, der beschrieb, wie ihn "farbige Musik" beim Entwerfen des Bühnenbilds für die Metropolitan Opera inspirierte, die Bildhauerin Carol J. Steen, die ihre synästhetischen Wahrnehmungen dreidimensional formt, und der Physiker Richard Feynman, der die farbigen Formeln beschrieb, die ihm bei der Ausarbeitung der Quantentheorien halfen und mit denen er den Nobelpreis gewann.

Natürlich haben auch andere Menschen die Welt auf diese Weise wahrgenommen, aber meist schweigen sie zu ihren Empfindungen, weil sie von den 99,95% der Bevölkerung gehemmt werden, die Synästhesie nicht kennt. Wir Synästheten lernen schon früh, dass ihre Empfindungen für die meisten Menschen verrückt oder gar verdächtig sind. Trotzdem ist es für mich eine Tatsache, dass 15 purpurn ist; ein farbloses o kommt mir absurd vor, ebenso wie ein dreieckiges o. Im Leben hängt so viel von der Frage ab: "Siehst du, was ich sehe?" - sie bestimmt, wen wir im Beruf unterstützen und wen wir heiraten.

Wenn ich die Synästhesie-Website des M.I.T. ansehe, erschrecke ich darüber, dass Synästhesie nur eine von einer gewaltigen Möglichkeiten ungewöhnlicher Wahrnehmungweisen ist, die im Cyberspace um Aufmerksamkeit wetteifern. Eine Voraussetzung für die Erforschung dessen, was wir sehen, ist unser Bedürfnis nach Aufmerksamkeit/Wertschätzung der anderen.

Lange bevor es das Internet gab und berühmte Universitäten die Erforschung der Synästhesie auf Websites vorstellten, hielt mein Vater alles, was ich sah, selbst fest, weil er von der inneren Logik der seltsamen Wahrnehmungen seiner Tochter überzeugt war.

Vor einigen Monaten stöberte ich in einigen Schubladen in der Küche, wo mein Vater und ich viele Jahre zuvor unsere Unterhaltung über mein farbiges Alphabet hatten. Dabei fiel mir eine Zeichnung in die Hände, die ich mit 7 gemacht und 50 blaue Katzen (cats) für Vater genannt hatte. Auf der Rückseite hatte mein Vater im Mai 1968 eine Notiz hinzugefügt: "Zu Pattys Bild: Sie hat mir gerade erzählt, dass 'cat' ein blaues Wort ist. Jetzt begreife ich, warum diese Katzen blau sind."

Pat Duffy

Erstmals veröffentlicht im San Francisco Chronicle am 7. November 1997

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